Springe zum Hauptinhalt

Vielfalt kultureller Ausdrucksformen

Freiräume für Kunst und Kultur  
Foto: © Caroline Minjolle

Kunstfreiheit als Indikator für demokratische Gesellschaften

Sara Whyatt, Expertin für Kunstfreiheit des UNESCO-Weltberichts "Kultur Politik neu|gestalten", über die Lage der Kunstfreiheit, Zensur in Europa und die Bedeutung des Schutzes der Kunstfreiheit für Gesellschaften.

Auszüge aus dem Gespräch im Rahmen der Präsentation des UNESCO-Weltberichts am 22. September 2016 in Wien*.

Wie ist es um die „Kunstfreiheit“ Ihrer Ansicht nach bestellt?

Sara Whyatt: Das Ausmaß des Problems ist beträchtlich: Im Jahr 2015 wurden weltweit über 496 Fälle von Angriffen auf KünstlerInnen dokumentiert. Diese Zahl beinhaltet drei Tötungen, mehr als 40 Personen im Gefängnis, andere vor Gericht – also zwar nicht inhaftiert, aber in Erwartung einer möglichen Freiheitsstrafe – Drohungen und Übergriffe. Diese Angriffe ereigneten sich in über 70 Ländern. Selbstverständlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Es zeigt nur das Ausmaß der fehlenden Daten auf, Zensur beruht ja auf zensurierter Information. Darüber hinaus gibt es viele Formen von Selbstzensur, die sehr, sehr schwierig zu erfassen sind.

Worauf stützen Sie Ihre Dokumentation von Verletzungen der Kunstfreiheit?

SW: Beweismaterial ist natürlich zentral für meine Arbeit – sowohl als ich bei PEN das Programm zur Meinungsfreiheit durchführte als auch in meiner Arbeit mit anderen Menschenrechts- und Kunstorganisationen seit damals. Eine zentrale Herausforderung für mich ist die Auslegung von Begrifflichkeiten. In den meisten Fällen wird Terrorismus als Vorwand genützt. Also, wenn ich einen Fall bearbeite, bei dem jemand des Terrorismus beschuldigt wird, dann muss ich diese Anschuldigung ernst nehmen und genau überprüfen; die Arbeit genau lesen und sie im Kontext betrachten. Aber zumeist stellt sich heraus, dass Terrorismus lediglich als Vorwand benutzt wird, um berechtigte Kommentare zum Schweigen zu bringen.

Beleidigung ist ein weiteres großes Problem für KünstlerInnen und SchriftstellerInnen: Was ist eine Beleidigung? Was bedeutet der Begriff? Gesetze gegen Beleidigung können ganz unterschiedlich ausgelegt werden: Was für die einen eine Beleidigung ist, ist für andere ein Scherz. … Das ist ein wirkliches Problem.

Ist Zensur auch in Europa ein Thema?

SW: Ich würde empfehlen, dass wir es uns in Europa nicht zu bequem machen, vor allem angesichts dieses „Klimas des Terrorismus” … Im Jahr 2010 habe ich in der Türkei an dem Fall von Orhan Pamuk gearbeitet, der wegen Staatsbeleidigung inhaftiert war. Die türkische Regierung kam auf uns zu und sagte: „Wie können Sie uns kritisieren, wenn sogar elf EU-Mitgliedstaaten Staatsbeleidigung als Straftatbestand in ihren Gesetzen verankert haben?” Eine internationale Rechtsanwaltskanzlei hat mit uns zusammengearbeitet und ihre Büros in Europa konsultiert. Tatsächlich gab es ähnliche Gesetze in elf Staaten, unter anderem in Deutschland, Frankreich und Polen. Diese wurden jedoch kaum je angewandt. Alle diese Gesetze reichen lange zurück, jenes in Frankreich etwa geht auf das Jahr 1870 zurück, andere stammen aus den 1940ern, wurden aber nicht angewendet. Die Leute haben nur die Schultern gezuckt und gemeint: „Diese Gesetze werden ohnehin nicht angewendet, also gibt es kein Problem.“ Ich habe 2010 einen kurzen Bericht zu den Ergebnissen verfasst. Das Fazit ist: „Lasst Gesetze keine schlafenden Hunde sein – irgendwann werden diese aufgeweckt und beißen einen!“ Als im März [2015] der deutsche Satiriker Böhmermann das Gedicht schrieb,… gab es das Gesetz, das Erdoğan nutzen konnte und die deutschen Behörden anwenden mussten. Anzumerken ist, dass das Gericht den Fall später abgewiesen hat. Oder in Italien: Wenn man die Flagge eines anderen Staates herabwürdigt, kann man verhaftet werden, um ein weiteres Beispiel zu nennen.

Im UNESCO-Weltbericht wird betont, dass der Schutz der Kunstfreiheit nicht nur Vorbedingung für kulturelle Vielfalt im Sinne der Konvention ist, sondern viel allgemeiner entscheidend für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften…

SW: Absolut! Wenn man es nur den JournalistInnen, den RichterInnen, der akademischen Welt überlasst, wäre kein Raum mehr für die Phantasie, für das Erforschen des „Was wäre wenn“ und „Was könnte sein“ vorhanden. Es gibt manchmal diese Tendenz, Kunst als weniger wichtig abzuwerten. Die andere Sache ist, dass die kreativen Künste ein Publikum erreichen, das viele JournalistInnen und ganz bestimmt die akademische Welt nicht erreichen. Sie [Kunst] erreicht Zielgruppen, die vielleicht nicht lesen, oder zwar lesen, aber ihre Information auf andere Art und Weise beziehen. Und das macht glaube ich KünstlerInnen manchmal gefährlicher. Sie bieten etwas eigenständiges neben allen anderen Formen von Information und Wissen.


Sara Whyatt (Großbritannien) ist Aktivistin und Wissenschaftlerin im Bereich Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Sie hat für Amnesty International gearbeitet und war stv. Direktorin von PEN International. Aktuell arbeitet sie unter anderem als Expertin für Kunstfreiheit für die UNESCO.

*Veranstaltung: UNESCO TALK: RE I SHAPING CULTURAL POLICIES
Vielfalt in Kunst und Kultur zwischen globalem Anspruch und lokaler Praxis
22. September 2016, Depot – Kunst und Diskussion, 1070 Wien

Weiterführende Informationen

Sara Whyatt (vorm. stv. Generaldirektorin PEN-International, Großbritannien) - Autorin des Kapitels über "Herausforderungen der Kunstfreiheit" des UNESCO-Weltberichts 2015 "Re|Shaping Cultural Policies"
© eSeL.at